Ein Essay von Magdalena, Q12
Plötzlich wird es dunkel. Nur einzelne Scheinwerfer beleuchten die Bühne. Die umgebende Menschenmenge beginnt zu kreischen. Man befindet sich auf einem Konzert seines Lieblingskünstlers. Das Hier und Jetzt dominiert. Kummer und Sorge sind vergessen. Es fühlt sich gut an, unter Menschen zu sein, die denselben Musikgeschmack, die gleichen Interessen haben. Man fühlt sich zugehörig. Die Musik bildet eine Seifenblase, in der man sich verstecken und einfach mal für einen kurzen Zeitraum alles loslassen kann, was einen gefangen hält. Sie hat eine Macht auf unsere Psyche und kann Emotionen auslösen.
In jeder Generation gibt es diverse berühmte Pop-Musiker. Da wären unter anderem die Beatles, Elvis Presley, Elton John oder Michael Jackson als weltweit bekannteste Namen zu nennen, die auch generationenübergreifend Anerkennung erhielten und immer noch erhalten. Inzwischen kann man wohl auch BTS, die südkoreanische „Boyband“, die sich in den letzten Jahren an die Spitze der Charts gesungen hat, dazuzählen. Nicht jedem Künstler gelingt es, die Charts zu toppen und auf Platz eins zu stehen, dennoch gehen immer wieder vereinzelte Lieder viral, egal ob der Künstler schon bekannt war oder nicht. Doch meist verblasst diese Popularität schnell wieder und der „hype“ ist beendet.
Bei BTS hingegen steigt die Anzahl der Fans und die Beliebtheit von Tag zu Tag mehr. Woran liegt das? Natürlich spielt ihre Performance mit körperlich anstrengenden und beeindruckenden Choreografien oder auch die aktive Auseinandersetzung mit ihren Fans durch sogenannte „Fanmeetings“ oder schlicht und ergreifend ihre Präsenz in den Sozialen Medien eine große Rolle. Das, was die meisten Menschen jedoch zu ihnen hinzieht, sind ihre bedeutsamen Lyrics. Während die meisten Musiker über Liebe und ihr Straucheln durch oder das Scheitern an ihr singen, greift die südkoreanische Gruppe auf tiefgründige Themen wie Depressionen, psychische Gesundheit oder auch die Wichtigkeit der Selbstliebe zurück. Sie erzählen ihre eigenen Geschichten, und ihre Zuhörer können sich damit identifizieren.
Wie groß die Spannbreite der Themen ist, über die BTS singen und wie sie sie in ihren Musikvideos darstellen, lässt sich gut an den Titeln „I need you“ und dem momentan auf allen deutschen Radiosendern präsenten „Dynamite“ zeigen. „I need you“ ist ein Song, dessen Lyrics von Liebe sprechen, aber keine Liebe der rosaroten, schönen Art, sondern über die einseitige, unerwiderte, Liebe, die man immer wieder erleben muss, obwohl sie einem nicht gut tut. Das dazugehörige Musikvideo ist unerwartet bis schockierend, denn sechs der sieben Jungs (die Bandmitglieder) begehen auf verschiedenste Art und Weise Selbstmord oder Mord. Sie sterben zum Beispiel durch eine Überdosis, ertrinken oder sterben bei einem Autounfall. Der siebte bleibt jedoch zurück und trauert um den Verlust seiner Freunde. Er zündet sechs Blütenblätter als Symbol für jeden einzelnen Freund an, den er auf dem Weg ins Erwachsenenalter verloren hat. Durch diese Bilder richtet das Video die Aufmerksamkeit auf das Phänomen der aufgewühlten Jugend und kritisiert das Leben und die negativen Einflüsse der Gesellschaft beispielsweise durch Missbrauch und Gewalt. In ihrer aktuellen Single „Dynamite“ hingegen, einem komplett in Englisch gesungenen Titel, überwiegt die Freude am Leben. Die Musik ist ein typischer Disco-Pop, wie er in den Siebziger Jahren üblich war, und der auch jetzt wieder brandaktuell ist. Im stimmungshebenden Musikvideo tanzt die Gruppe in farbenfrohen Schlaghosen in einem Ausbruch von Freude und lädt den Zuschauer dazu ein, sich ihnen anzuschließen zu tanzen und ein Licht zu sein, selbst wenn die Welt gerade in Zeiten der Pandemie und der Klimaverschmutzung ein wenig dunkel erscheint. J-Hope, ein Bandmitglied, sagt, dass eine Veröffentlichung des Titels eigentlich nicht geplant war , aber sie hätten es in der Hoffnung gemacht, den Hörern Energie zu geben.
Die K-Pop-Industrie ist eine sehr auf Perfektion ausgelegte Industrie. Wenn man ein Debüt im Fernsehen erreichen will, muss man nicht nur singen, sondern auch gut tanzen können und gut aussehen. Ob der den Fans nur vorgespielte, künstlich geschaffene Charakter auch die eigentliche Persönlichkeit wiedergibt oder nur eine clevere Marketingstrategie ist, weiß man nicht. Eine eigene Meinung und Haltung der Künstler zu politischen und sozialen Themen ist jedoch Tabu. Dies gilt als gefährlich für das Geschäft. Den Unternehmen der koreanischen Unterhaltungsindustrie ist es wichtiger, ihre Künstler als sympathische Menschen darzustellen und dadurch Profit zu machen. Man weiß also nie, auf welcher Seite der Gesellschaft sie stehen und welche Ansichten sie vertreten. Haben sie überhaupt eine Meinung zu Themen wie dem Klimawandel oder Rassismus? Oder wenigstens zu den Themen, die sie direkt betreffen? Zu den Auswüchsen ihres Geschäfts? Den Denkverboten? Dem Verschleiß der Talente? Vor allem die großen Produktionsfirmen der Tigerstaaten denken nicht viel weiter als bis zum nächsten Erfolg und es geht Ihnen ausschließlich um Kommerz. Und das gilt natürlich auch für die Boyband BTS, die seit 2013 unter der Vertretung von Bighit Entertainment zusammen auftreten und einen stetig größeren Bekanntheitsgrad auch außerhalb Koreas genießen. Sie haben es als erste Musikgruppe im Oktober 2020 überhaupt erreicht, als Label an die Börse zu gehen. Der Börsengang bringt dem Label rund 700 Millionen Euro und jedes Bandmitglied enthält knapp 70.000 Aktien, die zum Ausgabepreis einen Wert von 6,8 Millionen Euro haben.
Trotz ihres, spätestens seit dem Börsengang offensichtlichen, Reichtums lassen sich in den Songs der sieben jungen Mitglieder von BTS alle Gefühle und Lebensumstände ganz normaler Heranwachsender wiederfinden. Das hilft jungen Menschen, sich selbst zu reflektieren und schafft damit Erleichterung bei der Bewältigung der eigenen alltäglichen Probleme wie dem hohen gesellschaftlichen Druck, zum Beispiel einen möglichst guten Schulabschluss hinzulegen, während man doch mit den eigenen körperlichen Veränderungen und vermeintlichen Unzulänglichkeiten kämpft. Und wenn man dann noch einen Blick über den eigenen Tellerrand auf die heutige Welt wirft, sieht man, welchen zusätzlichen globalen Herausforderungen wir ausgesetzt sind. Die Fortschritte in Wissenschaft, Technik, Medizin und Kunst werden überholt von der Verschmutzung der Umwelt, auf die wir essentiell angewiesen sind. Den fehlenden Fortschritt bei der Verbesserung der grundlegenden Qualität des Lebens und die Unfähigkeit, Unterschiede in der Gesellschaft ohne Rückgriff auf Gewalt zu beheben. Nicht nur die jungen Generationen haben mit den zahlreichen Effekten und all diesen Problemen zu kämpfen, und unter diesen Umständen ist es kein Wunder, dass psychische Erkrankungen, die sich oft in selbstzerstörerischen Verhaltensweisen zeigen, immer mehr zunehmen. Durch das Stigma, das nach wie vor in Europa psychische Krankheiten umgibt, ist es kein Wunder, dass junge Menschen weit davon entfernt sind, die Hilfe zu erhalten, die sie oft bräuchten.
Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, etwas konkreter zu werden: Auch ich habe vor gut drei Jahren einen großen Anteil an schlechten Tagen gehabt und begriffen, dass es ganz schwer ist, wenn man sich in einem schwarzen Loch befindet, von allein wieder rauszukommen. Zu meinem Glück hatte ich eine quietschlebendige Freundin, die nicht aufgegeben hat, mir die Hand zu reichen, um mich in ihre Welt zu ziehen. Sie zeigte mir erste Musikvideos, fing vor mir an selbst mitzutanzen, was letztendlich dazu führte, dass wir uns vor einem Jugendtreff für K-Pop wieder fanden. Am Anfang fand ich diese Treffen ehrlich gestanden grausam, aber es war dennoch schön, mal wieder rauszukommen und etwas zu unternehmen. Was mich anfangs am K-Pop angezogen hat, waren die komplexen Choreografien. Ich hatte so etwas zuvor noch nie bei anderen Gruppen oder Solokünstlern gesehen, war beeindruckt und musste mir einfach noch mehr von ihnen anschauen. Wenn man sich mit K-Pop beschäftigen will, muss man offen dafür sein. Die Künstler singen in einer Sprache, die einem nicht bekannt ist und dennoch kommen die Emotionen an, denn Musik ist einfach Musik, egal in welcher Sprache gesungen wird. Es war gut für mich, mich mit Musik zu beschäftigen, denn sie war und ist für mich immer noch ein therapeutischer Zufluchtsort. Und Musik hat einen erwiesenermaßen starken Effekt auf unseren Körper. Forscher haben herausgefunden, dass Musik mehr Teile des Gehirns stimuliert als jede andere körperliche Funktion. Sie hat also eine mächtige Wirkung auf unser Gehirn, führt zu Schmerzlinderung und Entspannung und löst positive Erinnerungen aus.
Tatsächlich ist die Wirkung der Musik durch viele medizinische Studien bewiesen: Musik senkt Blutdruck und Herzfrequenz, lindert Symptome bei Parkinson, Multipler Sklerose und Gehirnverletzungen und kann bei der Bewältigung von Depressionen helfen. Musik wird vom Gehirn anders aufgenommen als jeder andere akustische Input und stimuliert viele verschiedene Bereiche des Gehirns. „Ohne Musik“, heißt es bei Friedrich Nietzsche, „wäre das Leben ein Irrtum.“ Durch die Kontaktbeschränkungen und die damit einhergehenden eingeschränkten Möglichkeiten, Musik und andere Kulturevents live zu erleben, merkt man erst deutlich, wie bedeutend diese Erlebnisse für das psychische Wohlergehen sind. Natürlich ist es wichtig, vor Umwelteinflüssen wie potentiell tödlichen Viren geschützt zu sein und aus gesundheitlichen Gründen nur auf die Grundbedürfnisse beschränkt zu sein. Aber um glücklich zu sein, braucht ein Mensch mehr als das. Dabei spielt die Musik eine nicht unbedeutende, für manche sogar überragende Rolle. Dabei muss es nicht unbedingt K-Pop sein, sondern es ist einfach nur wichtig, dass man sich mit der Musik, die man hört, identifizieren kann und damit positive Emotionen in einem freigesetzt werden. Mögen noch so viele die K-Pop Industrie verteufeln, K-Pop und ganz besonders BTS sorgen bei unzähligen Menschen, und vor allem bei mir, einfach für ein gutes Gefühl. Das ist in diesen Zeiten wichtiger denn je.