Der dunkelste Tag
Weiß weinende Winterlandschaften weisen wahrscheinlich wenig wasserfeste, westwärtsgerichtete Wege. Seit Tagen war der Schnee gefallen. Mal in einem leichten Regen aus Flocken, mal in riesigen, schweren, kalten Sturmwehen. Natürlich hatte es sich über die langen Herbsttage bereits angebahnt und doch war dieser schnelle Wandel so unverhofft wie stets gekommen. Gabriel warf einen wehmütigen Blick auf die Landschaft, die nicht mehr satte, grüne Hügel, sondern eine kalte, leere Wüste zeigte. Der matschige Pfad, auf dem er stets spazierte, war über Nacht zugefroren und der braune Boden war nun festgefroren, in zerklüftetem Zustand konserviert. Kein lieblicher Vogelgesang war mehr zu vernehmen, kein Bach rauschte, nicht einmal menschliche Stimmen lagen noch in der Luft. Es herrschte Stille, komplette Stille, aber nicht Ruhe, nein, Stille und man konnte sie hören.
Im immerwährenden institutionalisierten Isolationismus, irren Individuen impertinent. Nachdenklich blickte Chandler aus dem Fenster. Ihm blieb nichts, als immer weiter dem Schneetreiben zuzusehen und sich zu freuen, dass die Heizung problemlos funktionierte. Er war versucht, sein Handy herauszuziehen, was tat man auch sonst, wenn einem langweilig war. Aber er hatte seine Playlist durchgehört, seine Nachrichten und Mails alle gelesen. Und in Katzenvideos bei YouTube kam jetzt auch immer Schnee vor. Er wollte das alles nicht mehr sehen, aber wenn er seine Augen schloss, sah er nur schwarz, schwarz und weiß, aus mehr bestand seine Welt nicht mehr. Er griff nach der Tasse, die er sich hingestellt hatte und spuckte den Tee sofort wieder aus. Sogar der war inzwischen kalt.
Neue nihilistische Nischen, nahender Nervenkollaps, nie nachlassende negative Naturerfahrungen. Da unten lag die Wiese. Robin sah es immer noch so deutlich vor ihren Augen, die Erinnerungen, die sie in den lauen Sommertagen gesammelt hatte, Tage deren Vergänglichkeit, Zerbrechlichkeit ihr damals schon klar gewesen. Jetzt war sie froh, dass eine Decke aus Schnee über allem lag, was geschehen war, jetzt war all das nur noch in ihren Gedanken und sie konnte weitergehen, ohne immer wieder wehmütig aufs Grün zu blicken. Und sie hatte ausnahmsweise einmal den Eindruck, dass sich die Welt ihr anpasste und nicht anders herum. Ein schönes Gefühl.
Tautologien terminieren tückisch täuschend traute traditionelle Tauauffangbecken. Holly blickte in das Feuer, das sich immer wieder in warmen Wällen auftürmte, um dann doch wieder in sich zusammenzufallen. Das leise Geräusch von Stimmen lag wie ein Teppich in der Luft. Doch zogen die Worte an ihr vorbei, sie wünschte sich so sehr, dass sie sie berührten, sie hinwegzogen von der Dunkelheit und näher zu den Flammen, doch geschah es nicht. Sie starrte in die rundumliegende, allumfassende Dunkelheit. Auch dieses Feuer würde bald wieder erloschen sein.
Ewig eisüberzogene Elysien entfernen eilig Erinnerungen, ehemalige euphorische Ereignisse erscheinen eliminiert. Boris verfluchte sich dafür, seine Handschuhe vergessen zu haben. Er hätte sich inzwischen längst daran gewöhnen sollen, aber unterbewusst schien er die Notwendigkeit, seine Hände vor dem Absterben zu schützen, immer noch nicht aufgenommen zu haben. Noch 10 Minuten. Er lauschte der monotonen Stimme seines Lehrers in der Hoffnung, Worte zu entziffern, aber jede Anstrengung, jeder Versuch sich zu konzentrieren, war dazu verdammt im Ansatz zu scheitern. Endlich war der Unterricht zu Ende, schnell schwang er sich auf sein Rad, um wieder zu diesen Bildern zu fahren, die ihn verfolgten und doch so faszinierten. Er bremste in einem einsamen Waldstück. Friedlich standen die Bäume, so wie sie es seit tausenden Jahren getan hatten. Und in diesem weißen Gewand wirkte es so leicht, zerbrechlich, als könnte es jeden Moment in tausend Teile zerspringen. Und vielleicht verschwinden diese Landschaften eines Tages wieder, doch er hatte Angst, dass sie in seinem Kopf verbleiben.
Riesige Rotten rauer, ranzig riechender Raben rauben rote Ringe, Richtung Rand relokalisierte Rachegelüste. Aurora durchzuckte wieder ein kleines Schauern ob der Kälte, die die Nacht mit sich brachte. Aber ihr gefiel es in der Kälte einzuschlafen, es war besser als in komfortabler Wärme, so erschien ihr das Einschlafen mehr als Erlösung, als Entkommen aus der Kälte der realen Welt. Und doch, morgen würde sie erneut in ebendieser aufwachen und sie fürchtete sich vor dem Gefühl von Orientierungslosigkeit und Apathie. Sie musste einen Weg finden, daraus zu entkommen, aus den schwarzen Schluchten zu klettern, die sich als tiefe Risse durch ihre vormals so harmonische Welt zogen. Sie schloss die Augen und versuchte endlich in ein fantastisches Paradies abzutauchen.
Patrick, Q12